Seit über fünf Jahren bietet Bildung für alle e.V. Geflüchteten und Migrant*innen in Freiburg kostenfreie Deutschkurse an. Das Ziel des Angebotes ist es, die Menschen von der Alphabetisierung bis zum B2 Niveau zu begleiten und den Teilnehmenden auf lange Sicht eine Ausbildung zu ermöglichen oder sie in ein professionelles Schulangebot zu vermitteln. Mit Beginn des Lockdowns Mitte März konnten auch die Sprachkurse des Vereins nicht mehr stattfinden. Mit Veit Cornelis habe ich über die Herausforderungen gesprochen, vor denen Bildung für alle stand und dass Zugang zu Internet eine wichtige Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist. Auch erzählte mir der Soziologe, dass der Verein seit 6. Juli endlich wieder Präsenzunterricht in Kleinstgruppen draußen im Park abhalten kann. Veit Cornelis ist Mitglied des geschäftsführenden Vorstands bei Bildung für alle.

In den Wochen des Lockdowns konnten Ihre Sprachkurse nicht als Präsenzkurse stattfinden. Wie sind Sie mit dieser Herausforderung umgegangen, um für Ihre Teilnehmenden weiterhin da zu sein?
Das Coronavirus hat unserem ehrenamtlichen Sprachunterricht ein Strich durch die Rechnung gemacht. Von heute auf morgen konnten wir keinen unserer 260 Teilnehmenden mehr begrüßen. Aber anstatt zu hadern, haben wir gehandelt: Innerhalb weniger Tage haben wir Förderer aktiviert, unser Netzwerk angesprochen und Ideen ausgetauscht: Wie können wir unsere Teilnehmenden weiterhin unterrichten und den Kontakt halten? Wir haben jeden Einzelnen angesprochen: Hast du Zugang zum Internet? Hast du einen Laptop oder ein Smartphone? Hast du ausreichend Datenvolumen? Wir haben getestet, getestet, getestet und konnten nach kurzer Zeit online unterrichten. In den vergangenen Monaten haben wir mehr als 190 Menschen, über zwei Drittel unserer Teilnehmenden, in virtuelle Klassenräume gebracht. Für viele ist es vor allem wichtig, im Unterricht dabei sein zu können, um sich – wenn auch nur virtuell – zu begegnen. Ein entscheidender Schritt hin zu mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit Sprache und Medien. Wir sprechen hierbei auch von „Empowerment“.  Der Zugang zu Internet ist aus unserer Sicht eine der größten Herausforderung der Corona-Pandemie. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir „im Netz surfen“, gilt nicht für alle Menschen, die in Deutschland leben. Dabei ist mittlerweile der Zugang zu Internet eine wichtige Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Deutlich hervorzuheben ist jedoch: Es mangelt nicht nur an Hardware und Software, sondern auch an Medienkompetenz. Ein Handy besitzen mittlerweile fast alle Menschen, aber dies bedeutet nicht, dass auch ein allumfassender Umgang damit gewährleistet ist.

Wie viel Prozent haben keine Möglichkeit, an den virtuellen Kursen teilzunehmen?
Leider haben wir mit unserem Angebot etwa 30 Prozent der Teilnehmenden nicht erreichen können. Dies liegt insbesondere an fehlender Hardware, aber auch an mangelhaftem oder nicht vorhandenem WLAN. Zum Glück gibt es Förderer, die auf diese Lücke sofort reagiert haben und uns signalisiert haben: Wir lassen euch nicht im Stich. Lasst uns gemeinsam nach einer Lösung suchen. Die Förderer haben beispielsweise deutlich gemacht, dass Fördermittel durch eine Umwidmung der eigentlichen Verwendung alternativ eingesetzt werden können. Dies ist eine Form der Förderung, die uns absolute Agilität gibt, was gerade in der kurzfristigen Reaktion auf solche „besonderen Situation“ sehr viel wert ist. Andere Förderer haben uns auf wichtige Unterstützungsfonds hingewiesen, die insbesondere technische Ausstattungen unterstützen. Sachspenden hingegen sind leider nicht so einfach zu nutzen – häufig werden technische Geräte solange genutzt bis diese nicht mehr funktionieren. Wir haben uns da etwas mehr von Firmen erhofft, die diese Geräte herstellen oder einfachen Zugang haben – aber in einer drohenden ökonomischen Krise muss man auch die Unternehmen verstehen, dass sie nicht sofort handeln können.

Welche Alternativen gibt es für diese Menschen, weiterhin an dem Deutschkurs teilzunehmen?
Das ist eine Frage, die mich persönlich emotional trifft: Denn für jene Menschen, die wir nicht virtuell erreicht haben, gab es zu Zeiten des „social distancing“ keine Alternative. Das muss man sich einfach einmal vorstellen: Jeder von uns hat direkt erleben müssen, was es bedeutet, nicht mehr den gewohnten Alltag leben zu können. Und ich möchte betonen, dass diese Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemie-Geschehens dringend notwendig waren! Aber es gibt Menschen, die „mehr davon betroffen“ waren als andere. Wir haben versucht, den Kontakt zu halten, sei es über Briefe oder Telefonate. Teilweise haben wir Menschen mit Mundschutz und großer Distanz einfach mal besucht. Alleine das Klingeln an der Haustüre, Abstand halten und nachfragen: „Wie geht es dir?“ Das war so wichtig. Es war zu jeder Zeit immer unser Fokus, so schnell wie möglich wieder jene zu erreichen, die über Monate keinen Unterricht hatten.

Die vergangenen Wochen und Monate der Corona-Pandemie waren für alle Menschen eine starke Belastung. Bei vielen kamen Ängste hoch. Angst vor Ansteckung und Erkrankung, Angst um Angehörige, Angst vor Jobverlust, existenzielle Nöte. Ich stelle es mir noch schwieriger vor, in dieser Situation in einem Land zu leben, dessen Sprache ich gerade erst lerne und in dem ich kaum integriert bin. Mit welchen Problemen waren Ihre Teilnehmenden konfrontiert? 
Menschen, die neu nach Deutschland zuwandern, finden zahlreiche Unterstützungsangebote vor: vom kleinen lokalen Helfer*innenkreis bis zu kommunalem Integrationsmanagement. Und häufig ist die eigene „community“, also Menschen, die bereits einige Zeit länger hier sind und die gleiche Muttersprache sprechen, wichtige „Brückenbauer*innen“ ins gesellschaftliche Leben in Deutschland. Aber: Integrationsmanagement, Helfer*innenkreise und „community“ waren alle ebenfalls vom „Lockdown“ betroffen. Es hat schlicht keine Angebote und damit keine Kontakte mehr gegeben. Die Menschen waren größtenteils auf sich alleine gestellt. Hinzu kommt, dass sich nur die wenigsten neuzugewanderten Menschen Informationen über deutschsprachige Medien besorgen. Es ist uns von Beginn der Pandemie an wichtig gewesen, Informationen sprachsensibel aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. Gerade ein Infektionsgeschehen in Einfache Sprache zu übersetzen ist eine Herausforderung. Aber viele Teilnehmende haben uns zurückgemeldet: Ich weiß dank euch, was gerade los ist. Dabei spielen soziale Medien, wie Facebook und Instagram, eine wichtige Rolle. Bilder helfen zusätzlich auf notwendige Schutzmaßnahmen aufmerksam zu machen. Dies wird oft vergessen. Und klar, Unsicherheiten und Existenzsorgen sind plötzlich sehr real geworden: Was ist mit meinem Aufenthaltsstatus? Woher beziehe ich jetzt meine Asylbewerberleistungen, wenn das Amt keine Sprechstunden mehr anbietet? Was bedeutet „Kurzarbeit“? Was mache ich, wenn ich krank werde? Und so weiter und so fort. Nicht zu vergessen: Die Corona-Pandemie ist ein globales Phänomen. Die Sorge über Familienangehörige oder Freunde in den Heimatländern ist groß. Deutschland hat viele Staatsbürger*innen wieder „nach Hause geholt“. Dies ist für Geflüchtete und neuzuwandernde Menschen einfach nicht möglich. 

Im Zuge der Lockerungsmaßnahmen nach dem Lockdown haben Geschäfte, Friseure, Gastronomie und Hotellerie bis hin zu Schulen und Kindergärten langsam wieder geöffnet. Findet bei Ihnen zwischenzeitlich auch wieder Präsenzunterricht statt?
Es war zu jeder Zeit immer unser Fokus so schnell wie möglich wieder jene zu erreichen, die über Monate keinen Unterricht hatten. Wir können davon berichten, dass seit 6. Juli wieder in Kleinstgruppen Präsenzunterricht stattfindet: Draußen im Park und an ausgewählten Orten, die unsere Netzwerkpartner zur Verfügung stellen. Leider können wir aufgrund der Corona-Verordnung noch immer nicht zurück in das Schulgebäude im Stühlinger, wo wir eigentlich seit Jahren unterrichten. Im Gegensatz zu Hotels, Friseurgeschäften und Gastronomie dürfen wir bis heute nicht in Schulgebäude, in dem eigentlich der Unterricht stattfindet.

Wir hoffen und bangen mit jeder Neuanpassung der Corona-Verordnung „Schule“, dass wir bald wieder in der Schule den Unterricht abhalten können. Leider bis heute ohne ein für uns positives Ergebnis. Wir können überhaupt keine Aussagen zu einem geregelten Wiederbeginn treffen. Natürlich spielen dabei auch gesamtgesellschaftliche Daten zum Pandemie-Geschehen eine Rolle. Lokale Lockdowns wie zuletzt in Gütersloh wünschen wir uns überhaupt nicht! Daher appellieren wir auch an alle Menschen, die zunehmend denken, die Pandemie sei vorüber: Denkt an die, die noch immer durch diese Situation benachteiligt sind! Schützt euch und andere, damit wir so schnell wie möglich wieder ALLE am gesellschaftlichen Leben umfassend teilhaben können.

Immer häufiger ist zu lesen, dass die Corona-Krise wie eine Lupe wirkt, die bereits vor der Pandemie vorhandene Probleme nun viel deutlicher zum Vorschein kommen lasse. Wie ist das in Bezug auf den Bildungsbereich bzw. konkret auf Ihr Bildungsangebot? 
Die Gesetzgebung schließt weiterhin Menschen von Sprachkursangeboten, z.B. Integrationskursen des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration, aus. Der Hintergrund hierfür ist die sogenannte „schlechte Bleibeperspektive“, die über Zugang zu diesen Kursen entscheidet. Auch spielt der Wohnort, Stadt oder Land, eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Wer mutmaßlich kein Aufenthaltsrecht in Deutschland, beispielsweise über einen Schutzstatus als Flüchtling bekommt, hat auch keine unmittelbare Möglichkeit des Spracherwerbs. Dies halten wir für grundsätzlich falsch. Aus unserer Sicht hat jeder Mensch das Recht auf Bildung und unsere Erfahrungen in der Integrationsarbeit zeigen, dass es sowohl für die aufnehmende Gesellschaft wie auch für die neuzugewanderten Menschen wichtig ist, sich von Beginn an zu verständigen – nicht zuletzt, um Vorurteilen aktiv und frühzeitig zu begegnen. Nur aus diesem Grund gibt es niederschwellige Angebote wie Bildung für alle e.V. (BFA).

 Durch die „Corona-Brille“ ist deutlich sichtbar geworden, dass Menschen nicht einfach nur ein Bildungsangebot, sondern darüber hinaus Unterstützung in sehr unterschiedlicher Art und Weise benötigen. Wir arbeiten bei Bildung für alle e.V. im Teilbereich der Arbeitsmarktintegration bereits erfolgreich mit dem Konzept multiprofessioneller Teams bei der Unterstützung von neuzugewanderten Menschen: Neben einer Lernbegleitung steht eine Psychosozialbegleitung als fachkundige Ansprechperson für individuelle Belange zur Verfügung. Lernen gelingt nämlich nicht alleine durch ein gutes Schulbuch oder eine gutausgebildete Fachperson. Im Sinne eines erweiterten Bildungsbegriffes gehört die persönliche Sicherheit, Zufriedenheit und Widerstandsfähigkeit zu jenen Grundvoraussetzungen, die das Lernen überhaupt erst möglich macht. Das Stichwort der Stunde ist hierbei: Resilienz. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass individuelle Lernhindernisse häufig nicht im Bildungsalltag berücksichtigt werden. Dabei ist es unabhängig, ob ein Mensch neu nach Deutschland zugewandert ist oder bereits sein Leben lang hier lebt. Bildungsbenachteiligung ist Alltag in unserer Gesellschaft. Wenn wir als Bildungsorganisation hierfür mit unseren Erfahrungen etwas beitragen können, um dieser strukturellen Herausforderung aktiv zu begegnen, haben wir alles richtig gemacht. Dass Bildungsbenachteiligung leider konkret neuzugewanderte Menschen, und damit nicht selten Menschen aus sozialschwachen Milieus, alleinerziehende Menschen und vor allem Frauen betrifft, ist ein Fakt, den wir nicht weiter vernachlässigen dürfen. Der Blick muss auf die Details im Bildungssektor gerichtet werden. Hierzu spreche ich mich für einen Dialog zwischen Kultusministerien und Zivilgesellschaft, aber insbesondere auch den Betroffenen aus. 

Was wünschen Sie sich hier für die Zukunft?
Es braucht jetzt eine gemeinsame strategische Ausrichtung aller Akteure, die sich mit Bildung beschäftigen. Leider müssen wir davon ausgehen, dass dieser „Krisen-Modus“ noch lange anhalten wird, da das Virus nicht einfach wieder verschwinden wird. Wir werden auch in den kommenden Monaten und Jahren auf lokale „Lockdowns“ reagieren müssen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Alle müssen sich jetzt mit dem Thema der Bildungszugänge jenseits des „klassischen Bildungsangebotes“ auseinandersetzen. Es braucht die Inklusion vorhandener und positiv erprobter Konzepte aus der Zivilgesellschaft in das Regelsystem. Was ich mir jedoch am allermeisten wünsche: Wir dürfen bei allen Digitalisierungsstrategien, Homeschooling-Offensiven und Fernlernmethoden niemanden vergessen, der zuhause sitzt und mit all dem nichts anfangen kann. Egal aus welchen Gründen. Bildung für alle ist nicht nur unser Organisationsname, sondern auch unsere Vision. Wir möchten die Potenziale, aber auch die Unterstützungsbedarfe aller Menschen sichtbar machen, da aus unserer Sicht jeder Mensch ein wichtiger Teil dieser, unserer gemeinsamen Gesellschaft ist. Ich wünsche mir, dass allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung ermöglicht wird und gemeinsam mit Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft kluge, krisenresistente und zukunftsfähige Strategien entwickelt werden.

Die Vision von „Bildung für alle“ ist eine Welt, die allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung ermöglicht. Deshalb schafft der Verein Orte des Lernens für Menschen, die von Bildungsprozessen ausgeschlossen werden, und begleitet strukturell benachteiligte Menschen auf ihrem Bildungsweg. Zusätzlich zu den reinen Bildungsangeboten bietet „Bildung für alle“ ausbildungsbegleitende Maßnahmen, Freizeitangebote und eine Kinderbetreuung an. Die derzeit 257 Teilnehmenden kommen u.a. aus Afghanistan, Gambia, Iran, Nigeria, Irak, Pakistan, Algerien, Eritrea, Somalia und Syrien. Der Frauenanteil an den Kursen ist mit 34 Prozent erfreulich hoch. Ehrenamtlich mit über 3.000 Stunden pro Jahr engagieren sich 70 Lehrende und 21 Kinderbetreuer*innen. Ein 11-köpfiges Organisationsteam kümmert sich hauptberuflich um die Koordination, didaktische Leitung, Kinderbetreuung und das Programm „Fit für die Ausbildung“.

Weitere Infos unter www.bfa-freiburg.de

Bildnachweis:
Felix Groteloh

Henrike Fleischmann

Seit 15 Jahren mit Herzblut selbständige PR-Beraterin und Texterin, Inhaberin von Fleischmann PR. Aktives Zuhören, Einfühlungsvermögen und Begeisterungsfähigkeit zeichnen sie aus. Sie liebt die Herausforderung, komplexe Sachverhalte kurz und allgemein verständlich aufzubereiten.